Untersuchungsablauf am Beispiel einer möglichen Fraktur des Kahnbeins
Eine ausführlich gestaltete klinische Untersuchung startet wie immer mit einem Gespräch. Je mehr ich über den genauen Unfallhergang erfahre, desto geschärfter wird mein Blick auf das folgende Röntgenbild. Wenn dieser Patient mit ausgestreckter Hand sehr flach in Fallrichtung den Boden berührte, dann liegt mein Fokus eher im Unterarm Bereich, diesen werde ich dann auch im Röntgenbild mit einschliessen müssen.
Ist der Aufprallwinkel größer und geht Richtung 90°, dann ist die Druckaufnahmezone im Bereich des Handgelenks zu finden. Mein Blick wird sich auf den distalen Radius schärfen. Dabei unterscheiden wir die Extensionverletzung (Colles fracture) in ca 80% der Fälle mit der Patientenaussage “…ich konnte mich noch gerade rechtzeitig abstützen…”, dies bedeutet, dass sich der Patient mit der Handfläche abfangen konnte oder die seltenere zu ca 20% vorkommende Bruchform der Flexionsverletzung (Smith fracture) “…es ging alles so schnell, ich hatte keine Zeit, mich mit den Händen zu fangen…”. Flexionsverletzungen sind immer instabiler, sodass nur ganz selten ein Therapieversuch mit Reposition und Gipsruhigstellung gelingt, versuchen sollten wir es trotzdem, außer es liegt nebenbei noch eine Trümmerzone, die eine notwendige Stabilität nicht zulässt.
Liegt allerdings der Winkel bei 90° oder sogar darüber, dann nimmt die Handwurzelreihe den Kraftvektor des Sturzes auf und dabei liegt unser Hauptaugenmerk natürlich auf dem Kahnbein, dem Os scaphoideum.
Wie läuft die Untersuchung ab? Einblick in das medizinische Vorgehen
Bei der klinischen Untersuchung gehört eine regelhafte Druckschmerzabtastung beider Unterarmknochen vom Radiuskopf mit Funktionsprüfung durch Drehung der Hand von Supination in Pronation, sofern der Patient dies toleriert, und gleichzeitigem Tasten des rotierenden Radiuskopfes bis nach distal zum Handgelenksspalt genau so zum standardisierten Procedere wie auch der gezielte Druckschmerz in der Tabatiere. Einerseits soll der Druck in der Tabatiere, auch liebevoll im angloamerikanischen Raum „snuff box“ genannt, nach proximal auf den Processus styloideus radii und andererseits nach distal auf den proximalen Pol des Scaphoids gerichtet sein. Erst im Seitenvergleich wird die Tabatiere des betroffenen Gelenks als positiv gewertet, denn bei überempfindlichen Personen schmerzt der Druck des Untersuchers auch den nicht verletzten Knochen.
Ein möglicher Stauchungsschmerz des Daumens verstärkt den Verdacht auf eine Scaphoidbeteiligung.
Die Verletzungskette nach proximal in den Schultergürtel wird mit einer einfachen Untersuchung ausgeschlossen, in dem sie den Patienten den Nacken- und Schürzengriff durchführen lassen. Dies sind komplexe Bewegungen der Schulter, die eine Fraktur oder einen Sehnenriss der Rotatorenmanschette nicht dulden.
Nicht selten kommt es allerdings zu häufig übersehenen knöchernen Absprengungen des Os triquetrum, die einerseits durch weitere Druckschmerzabtastungen am Dorsum der Hand auffallen und andererseits im Röntgen nur auf den Seitbildern dorsal mit einer kleinen Knochenschuppe, die dann meist etwas abgehoben ist, den Verdacht bestätigen. Dabei ist das Ligamentum radiocarpale dorsale knöchern ausgerissen, verheilt aber in der Regel problemlos in 3 Wochen unter Ruhigstellung.
Orientierung verschaffen: Röntgenbild / CT / MRT?
Nach der Untersuchung folgt das Röntgenbild in vorerst 2 Ebenen, sollte eine Scaphoidbeteiligung nicht suspiziert sein. Bei radiologischem oder bereits klinischem Verdacht hat sich das „Naviculare Quartett“, auch Kahnbeinserie genannt, eine Röntgenaufnahme in d.p. = dorsopalmar, seitlich und mit 2 jeweils mit 45° schräg verlaufenden Strahlengängen, bewährt, um Scaphoidfrakturen auszuschliessen. Ist sich der Untersucher zwischen Klinik und Röntgenbild nicht einig, dann hilft ein CT.
Weiters werden auf den d.p. Aufnahmen die Gilulalinien durchgesehen. Das sind die sehr regelmäßig verlaufenden Abstände zwischen den 8 Handwurzelknochen. Speziell die ligamentäre Verbindung zwischen dem Os lunatum und dem Os scaphoideum erfährt nicht selten eine Sprengung, die dann statt den üblichen 2-3mm Abstand einen 4-5 und mehr mm Abstand erfährt und unter der Diagnose „scapholunäre Dissoziation“ ihren weiteren Verlauf nimmt. Eine elegante Operation mittels der Palmaris longus Sehne und kleinen Knochenankern verhilft der Handwurzelreihe wieder zu stabilen Verhältnissen und physiologischer und schmerzfreier Beweglichgkeit.
Sollte der Schmerzdruckpunkt eher an der ulnaren Seite des Handgelenks liegen, befinden wir uns in einer komplett anderen Region, die mehr durch Bänder, Kapsel und einer Art Bandscheibe, dem Diskus triangularis, gebildet wird. Der bekannte TFCC – trianguläre fibro cartilaginäre complex besteht aus unzähligen Bändern und dem ulnaren Handgelenkskapselabschnitt, die als Aufhängeapparat für den Stoßdämpfer, dem Diskus triangularis, dienen. Nicht entdeckte Risse in diesem Bereich schmerzen lange, werden nur mit MRT diagnostiziert und erfolgreich mittels Handgelenksarthroskopie behandelt.
Natürlich kann der Processus styloideus ulnae bei forcierter Radialabduktion distrahiert werden und knöchern absprengen oder aber auch bei Ulnarabduktion gestaucht und komprimiert werden. Oftmals liegen auch kombinierte Bruchformen des distalen Unterarms vor wie zum Beispiel distale Radiusfraktur loco typico und Absprengung des Processus styloideus ulnae (Ellengriffelfortsatzes) oder distale Radiusfraktur mit Gelenksbeteiligung und Trümmerzone und knöcherne Absprengung des Proc. styl. ulnae.
Die Therapie
Die in der Therapie damit verbundene Ruhigstellung bei Beteiligung des Griffelfortsatzes der Elle mittels Oberarmgips bleibt wohl ein Unikat vieler öffentlicher unfallchirurgischer Ambulanzen in Österreich, die international oder auch in Handambulanzen, die von speziell ausgebildeten Handchirurgen geführt werden, nicht so gehandhabt wird, da reicht die Ruhigstellung mit einem gewöhnlichen Unterarmgips völlig aus. Die im Unterarmgips minimale Pro- und Supinationsoption läßt den Proc. styl. ulnae adäquat heilen.
Eine Gelenksbeteiligung mit Stufenbildung, eine Flexionbruchform des Typ Smith, die durch den Sehnenzug immer instabil ist und instabile Extensionsverletzungen des Typs Colles werden erfolgreich mit einer Plattenosteosynthese versorgt. Diese wird von palmar auf den Radius gebracht und hat das Ziel den Radius auch in seiner Länge wieder herzustellen. Die Beziehung zwischen Radius und Ulna im distalen Radioulnargelenk (DRUG) muß auf Augenhöhe wieder hergestellt werden. Vorherrschende relative Ulnavorschübe (durch Verkürzung des Radius durch die eingestauchte Bruchzone) wirken sich als chronische Schmerzen und Bewegungseinschränkung aus. Dies muss verhindert werden.
Differentialdiagnostisches & Hinweise bei unklarem Befund
Sollten die Röntgenbilder nicht schlüssig sein und die Bewegungsversuche des Daumens oder anderer Finger Schmerzen verursachen, dann ist ein Ultraschall der Sehnen im Bereich des Handgelenks zusätzlich zur Röntgendiagnostik sehr hilfreich. Nicht selten reißt eine der Sehnen bei einem distalen Radiusbruch mit ab, da es durch die scharfe Knochenbruchkante und die beim Sturz vorhandene Spannung der Sehne die Zugkraft der Sehne übersteigt. Dies wird auch bei operativer Sanierung des distalen Radius mit Platte und Schrauben oftmals übersehen. Durch eine sorgfältige, vorangegangene Motorikuntersuchung der Finger bekommen wir einen guten Überblick des Verletzungsausmaßes.
Sollte die Schwellneigung mehr im Bereich des Daumensattelgelenks liegen, so denken wir sofort an die Frakturtypen an der Basis des Metacarpalknochens I namens, Winterstein, Rolando und Bennett.
Dies können wir bei unserem Patienten ausschliessen, denn er präsentiert uns die Schwellung im Handgelenksbereich, die in Verbindung mit den Excoriationen über dem Thenar unseren Verdacht auf eine Scaphoidfraktur schon sehr eingrenzen. Jetzt sollten wir den Frakturtyp noch über unsere Kahnbeinserie herausfinden und die adäquate Therapie einleiten.
Handelt es sich um glatte Querfrakturen im mittleren Drittel ohne Diastase, dann wird ein Unterarmgips mit Daumeneinschluss für mindestens 8 Wochen angelegt (bitte den Patienten vorbereiten, dass es bis zu 12 Wochen dauern kann – Faktoren wie Alter, Rauchen, andere Drogen, Medikamente, Knochenstoffwechsel, Begleiterkrankungen, Diabetes…spielen eine wesentliche Rolle). Sollte er mit 12 Wochen rechnen und der Gips wird nach 8 Wochen entfernt, sind alle Gewinner. Machen Sie es umgekehrt, haben alle verloren. Der Patient denkt sein Körper ist schuld und wird möglicherweise noch depressiver als er nach 8 Wochen Gips und dadurch täglicher Einschränkung schon ist und Sie verlieren das Vertrauen des Patienten.
Gibt es eine radiologisch manifeste Diastase von 2mm oder mehr, dann wird operiert mittels Schraubenosteosynthese, die die 2 Fragmente wieder zusammen führt. Neue operative Methoden mit einer speziellen Knochenschraube bewiesen ebenso hervorragende Ergebnisse, ohne dass der Patient mit einem Metall nach Hause geschickt wird.
Andere Bruchformen wie Polfrakturen, schrägverlaufene oder sogar Trümmerbrüche müssen individuell behandelt werden.
Die Anatomie und die einzigartige Blutversorgung dieses zentralliegenden Knochens im Handgelenk macht es deutlich, wann welche Frakturform wie behandelt werden sollte. Beinahe der gesamte Knochen ist von Knorpel überzogen. Somit wird als einzig relevante Blutversorgung der Eintritt der Gefäße am distalen Pol gefunden. Kommt es nun zu einer wie oben beschriebenen Querfraktur des Scaphoids mit Diastase, dann wird der proximale Pol von der Durchblutung abgeschnitten und stirbt ab. Spätfolge einer übersehenen Verletzung dieser Art ist die partielle Knochennekrose des Scaphoids mit täglichen Schmerzen. Operativ bleibt uns dann nur mehr einen Beckenknochenspan oder Leichenmaterial an dieser Stelle einzusetzen und die Gefäßversorgung über den distalen Pol mit anzuschliessen. Eine komplette Entnahme des Scaphoids ist ebenso möglich, nur müssen dann die angrenzenden Handwurzelknochen mittels einer 4-corner fusion in sich stabilisiert werden, um einen totalen Kollaps der Wurzelreihen zu verhindern. Dabei ist die totale Schmerzfreiheit allerdings nicht zu garantieren. Eine komplette „proximal row carpectomy“, so radikal diese Operation klingt, wobei alle 4 proximalen Handwurzelknochen entfernt werden, ist eine weitere Option, so erstaunlicher ist es, dass ein Großteil der Patienten schmerzfrei den Alltag bewältigen kann.
Was mir am Herzen liegt: Besondere Hinweise für JungkollegInnen
Ich denke, es leuchtet ein, diese salvage Operationen mit einer adäquaten Diagnostik zur rechten Zeit zu verhindern und deswegen animieren wir alle unsere Jungkolleginnen und -kollegen, dass sie wenn ein Patient mit Schmerzen im Handgenksbereich in die Spitalambulanz oder in die Ordination kommt, immer auch eine mögliche Scaphoidbeteiligung im Visier haben.
Danke für Ihr Interesse und gutes Gelingen in Ihrer praktischen Tätigkeit mit Ihren Patienten!
Dr. Axel Köllesberger
Facharzt für Orthopädie und Traumatologie